Im Detail
Der Erinnerungsort Topf & Söhne - Die Ofenbauer von Auschwitz ist der einzige Ort in der europäischen Erinnerungslandschaft, der auf einem historischen Firmengelände die Verbindung von privaten Unternehmen und dem nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen dokumentiert. An keinem anderen zivilen Ort waren die mit der Praxis der industriellen Vernichtung von Menschenleben verbundenen Fragen mehr präsent als in diesem Erfurter Unternehmen J. A. Topf & Söhne: als Auftrag, als Arbeit, als technologische Herausforderung.
Es gab »nicht Teufel und Menschen in Auschwitz, sondern Menschen und Menschen«, so Józef Szajna, ehemaliger polnischer Auschwitz- und Buchenwaldhäftling. Menschen, die das Lager wollten, errichteten und in Betrieb hielten, und Menschen, am Ende weit über eine Million, die dort umgebracht wurden. Es waren die Ingenieure von J. A. Topf & Söhne, die die Verbrennungsöfen und die Lüftungstechnik für die Gaskammern in den Krematorien von Auschwitz-Birkenau, Zentralort des Völkermords an den europäischen Juden und Sinti und Roma, entwickelten und installierten.
Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit. Am 27. Januar 2011 wurde der Erinnerungsort Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz auf dem ehemaligen Firmengelände eröffnet. Damit bekennt sich die Landeshauptstadt Erfurt zu ihrer Verantwortung gegenüber der Geschichte und sichert einen historischen Lernort und dessen unersetzbares Potential zur Reflexion ethischer Fragen des Arbeitens und Wirtschaftens für die Zukunft. Der Erinnerungsort ermöglicht einen neuen Zugang zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Er wirft am Beispiel der Mitwisser- und Mittäterschaft während der NS-Zeit Fragen nach der Verantwortung des Einzelnen in seinem (beruflichen) Alltag heute auf und hat sich zu einem Initiator lebendiger Formen des Gedenkens und zu einem bedeutenden Knotenpunkt für gesellschaftliche Debatten über Wirtschaftsethik sowie Gefährdung und Verteidigung von Menschenrechten entwickelt.
1878 J.A. Topf (1816-1891) gründet ein feuerungstechnisches Baugeschäft in Erfurt.
1889 Die Firma J. A. Topf & Söhne, Spezialgeschäft für Heizungsanlagen, Brauerei- und Mälzereieinrichtungen, erwirbt ein eigenes Firmengelände am Rande Erfurts (heute Gebiet zwischen Sorbenweg und Rudolstädter Str.).
1914 Die Firma hat mehr als 500 Mitarbeiter. Sie beginnt in einer kleinen Abteilung mit dem Bau von Einäscherungsöfen für Krematorien und wird in den 20er Jahren zum Marktführer in dieser Branche.
1939 Ludwig und Ernst Wolfgang Topf, Geschäftsführer und Firmeninhaber in dritter Familiengeneration, beginnen damit, die SS mit speziell für die Konzentrationslager entwickelten Leichenverbrennungsöfen zu beliefern. Konstruiert werden sie von dem Ingenieur Kurt Prüfer.
1942 Im Wissen um den Massenmord mit Gas in Auschwitz reicht die Firma auf Initiative des Ingenieurs Fritz Sander einen Patentantrag für einen „kontinuierlich arbeitenden Leichenverbrennungsofen für Massenbetrieb“ ein.
1943 Die Großkrematorien im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau werden mit Öfen und Gaskammer-Lüftungstechnik aus Erfurt zu „Todesfabriken“ ausgerüstet. Die Lüftungsanlagen entwickelt der Ingenieur Karl Schultze.
1945 Topf & Söhne arbeitet im Februar daran, mit den in Auschwitz-Birkenau demontierten Anlagen der Todesfabriken ein neues Vernichtungszentrum in der Nähe des KZ Mauthausen zu errichten.
Im April unterstützt der neugewählte Betriebsrat aus Kommunisten und Sozialdemokraten die Rechtfertigung der Firmenleitung, dass es sich bei den Ofenlieferungen um eine gewöhnliche Geschäftsbeziehung gehandelt habe.
Am 31. Mai begeht Ludwig Topf aus Angst vor seiner Verhaftung durch die US-Armee Selbstmord. Ernst Wolfgang Topf reist in die westlichen Besatzungszonen und wird nach dem Besatzungswechsel durch die sowjetische Armee an seiner Rückkehr gehindert.
1946 Verhaftung von Kurt Prüfer, Fritz Sander, Karl Schultze und Betriebsdirektor Gustav Braun durch die sowjetische Armee. 1948 Verurteilung in Moskau zu jeweils 25 Jahren Lagerhaft wegen Unterstützung der SS beim Völkermord.
1947 J. A. Topf & Söhne wird landeseigener Betrieb.
1948 Die Firma wird volkseigen und in Topfwerke Erfurt VEB umbenannt. Sie wird der VVB NAGEMA angegliedert (Vereinigung volkseigener Betriebe des Maschinenbaus für Nahrungs- und Genussmittel, Kälte- und chemische Industrie). Das Leitungspersonal ist dasselbe wie vor 1945, abgesehen von den Brüdern Topf und den verhafteten Ingenieuren.
1951 Ernst Wolfgang Topf gründet in Wiesbaden die Firma J. A. Topf & Söhne neu und spezialisiert sich auf den Bau von Krematoriums- und Abfallvernichtungsöfen. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen ihn werden eingestellt. 1954 verlegt er die Firma nach Mainz.
1952 Umbenennung des Erfurter Betriebs in NAGEMA VEB Maschinenfabrik „Nikos Belojannis“ nach einem griechischen Kommunisten, der bis zu seiner Flucht 1943 Häftling in einem deutschen KZ in Griechenland war.
1955 Der Bereich Krematoriumsofenbau bei „Nikos Belojannis“ wird aufgelöst.
1957 Umbenennung in VEB Erfurter Mälzerei- und Speicherbau (EMS), die Produktion industrieller Feuerungsanlagen wird ganz aufgegeben.
1963 Konkurs der Firma J. A. Topf & Söhne von Ernst Wolfgang Topf in Mainz.
1993 Die EMS in Erfurt wird privatisiert. Jean-Claude Pressac, Verfasser eines Buches über die Krematorien von Auschwitz, übernimmt wesentliche Teile des Firmenarchivs und verbringt sie nach Paris.
1996 Konkurs der EMS GmbH.
1999 In Erfurt gründet sich der Förderkreis Topf & Söhne. Er fordert ein Forschungsprojekt zur Betriebsgeschichte von J. A. Topf & Söhne und tritt dafür ein, das ehemalige Verwaltungsgebäude der Firma für Ausstellungs- und Dokumentationszwecke sowie pädagogische Angebote zu nutzen.
2001 Ein Teil der Firmenbrache wird besetzt, um ein autonomes Kulturzentrum zu betreiben. Das „Besetzte Haus“ führt neben soziokulturellen Projekten auch Veranstaltungen und Führungen zur Geschichte von Topf & Söhne im Nationalsozialismus durch.
2002 An der Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar beginnt ein Forschungsprojekt zu Topf & Söhne, finanziert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
2003 Das Thüringische Landesamt für Denkmalschutz weist das Verwaltungsgebäude als Kulturdenkmal aus und schlägt eine Nutzung für die Darstellung und Aufarbeitung der Geschichte vor. Mehrere Produktionsgebäude erhalten ebenfalls Denkmal-Status. Im Falle von Abbruch und Neubebauung ist ihr Ort durch eine Markierung zu kennzeichnen.
2005 Die internationale Wanderausstellung „Techniker der ‚Endlösung’. Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz“ der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora wird im Jüdischen Museum in Berlin eröffnet. Der Erfurter Oberbürgermeister Manfred O. Ruge und der Direktor der Stiftung Buchenwald und Mittelbau-Dora, Prof. Dr. Volkhard Knigge vereinbaren, die Ausstellung nach ihrer Wanderung als Kern des Erinnerungsortes auf Dauer im ehemaligen Verwaltungsgebäude von Topf & Söhne in Erfurt zu zeigen. Die Stadt finanziert die Erarbeitung eines Nutzer- und Betreiberkonzeptes und einer pädagogischen Konzeption für den Erinnerungsort.
2007 Der Erfurter Stadtrat beschließt einstimmig, im ehemaligen Verwaltungsgebäude der Firma Topf & Söhne einen Erinnerungsort zu schaffen und zu betreiben.
2008 Die Domicil Hausbau GmbH & CO KG in Mühlhausen/Thüringen wird Eigentümerin des ehemaligen Firmengeländes von Topf & Söhne und damit Partnerin für die Stadt Erfurt beim Aufbau des Erinnerungsortes und zukünftige Vermieterin der Räume im Verwaltungsgebäude und der Außenanlagen. Für das Gebiet erstellt die Stadt einen neuen Bebauungsplan, der sowohl die Nutzung des Verwaltungsgebäudes und seines Vorplatzes als Erinnerungsort festschreibt wie auch die Errichtung eines Fachmarktzentrums und Wohnungen durch den Investor ermöglicht.
Das Kultusministerium des Freistaates Thüringen und der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien bewilligen eine Fördersumme von insgesamt 1 Mio. Euro für den Aufbau des Erinnerungsortes.
2009 Im Januar scheitern die Verhandlungen zwischen der Stadt Erfurt und dem „Besetzten Haus“ über eine räumliche Alternative für das autonome Kulturzentrum. Ein städtisches Ausweichangebot wird vom „Besetzten Haus“ ausgeschlagen. Der Eigentümer, der zunächst durch eine mehrmonatige Fristverlängerung eine einvernehmliche Lösung ermöglichen wollte und sich keine Bauverzögerung mehr leisten kann, erwirkt ein Räumungsurteil beim Landgericht und lässt das „Besetzte Haus“ am 16. April durch die Polizei räumen.
Das Verwaltungsgebäude wird durch ein neues Dach und neue Fenster vor dem weiteren Verfall geschützt.
2010 Im ehemaligen Verwaltungsgebäude beginnt der Innenausbau für den Erinnerungsort.
2011 Der Erinnerungsort Topf & Söhne - Die Ofenbauer von Auschwitz wird eröffnet.